[Rezension] T.C. Boyle – Die Terranauten oder „Emotionaler Untergang in Untätigkeit“
Die Terranauten von T.C. Boyle ist keine Science Fiction, trotz spannender Mischung von Science und Fiction. Denn Die Terranauten ist keine Zukunftsmusik, sondern die literarische Umsetzung eines Experiments, was in den 1990er Jahren tatsächlich stattgefunden hat. Insofern umfasst es weniger Fiktion, als ich dachte, ebenso Science. Der Roman legt seinen Schwerpunkt auf die Psychologie in der am Projekt beteiligten Personen. Medium meiner Wahl: Das gekürzte Hörbuch aus dem Hörverlag, u.a. mit der Stimme von August Diehl.
Anmerkung: Der Klappentext auf Amazon verrät einen überraschenden Plot-Twist. In meiner Infobox unterm Beitrag steht der Klappentext vom Hörbuch, der zwar bewirbt, aber spoilerfrei. Mir gibt sogar das Inhaltsverzeichnis zu viel preis. Aber jeder, wie er mag.
Wie NASA – nur auf der Erde
Getreu dem Motto: „Nichts rein, nichts raus. Vier Männer, vier Frauen. Neue Welten, neues Leben.“
1994. Auf der Erde werden die Ressourcen knapp. Auf zum Mars, denkt sich die Menschheit, und startet ein nie dagewesenes Experiment. Von der Presse gefeiert ziehen die acht Terranauten in die Ecosphäre 2 (E2), den gläsernen Gebäudekomplex, der für zwei Jahre ihr zuhause sein wird. Dort sollen sie in ihren Fachgebieten forschen. Geleitet wird die Simulation von der Mission Control. Doch bald entzieht sich die Testgruppe der Anweisung von außen.
Die Terranauten ist ein psychologischer Roman über die zerbrochene Träume und unmögliche Freundschaft, Kontrollsucht und Egotrips, den ich erst zu schätzen wusste, als ich die Hintergründe recherchierte. Denn dieses Experiment hat tatsächlich stattgefunden.
Das wahre Experiment: Über Biosphere 2
„It looks like something out of Science Fiction. But how much ist Science and how much is Fiction?“ -NYT Retro Report
Der gläserne Gebäudekomplex der Biosphere 2 befindet sich in Arizona, in den USA. Er wurde errichtet, um ein zweites sich selbst erhaltendes Ökosystem zu schaffen, das von unserer Welt, also der Biosphere 1, unabhängig ist. Angepriesen wurde das Projekt als „Test zur Besiedlung fremder Planeten“ wie z.B. des Mars. So wurden vom 26.09.1991 – 26.09.1993 die ersten Testpersonen (vier Männer, vier Frauen) eingeschlossen, um zwei Jahre autark zu leben. Als aufgrund eines Unfalls eine der Wissenschaftlerinnen zur medizinischen Behandlung die Biosphere verlassen musste, galt das Projekt trotz Fortführung als gescheitert. Im Jahre 1994 fand ein zweiter Testlauf statt, der nach 6 Monaten endete. Heute kann man die Biosphere 2, die mittlerweile von der University of Arizona genutzt wird, besichtigen.
Im Buch wird die öffentliche Schmach der ersten Crew als starkes Motiv verwendet, weshalb unsere Protagonisten unter keinen Umständen die Luftschleuse öffnen wollen. Auch die Eckdaten wurden im Roman übernommen: Der Einschluss soll 730 Tage dauern. Der Aufbau des Habitats wird im Roman so beschrieben: Ein gläserner Komplex von 1,3 Hektar Fläche, 8 Stockwerke hoch, mit 3800 Tier- und Pflanzenarten über 5 Biome, dazu kommen 2 Bereiche für die Crew: Wohnbereich und Anbauzone. Unsere Protagonisten ersetzen die zweite Testgruppe ab 1994.
Die Perspektiven: Dawn, Ramsey und Linda
„Wir atmeten zwar Teamgeist, aber selbst darin versuchten wir uns zu übertreffen.“ – 002
Fiktiv sind die Charaktere des Teams. Die Figuren des Romans sind eine feste Gruppe, auch dort gilt: Keiner rein, keiner raus. Unterschieden wird lediglich zwischen dem Team der Mission Control und dem Team in der Ecosphere 2. Geschildert werden die Erlebnisse rund um das Projekt aus drei verschiedenen Perspektiven. Ramsey und Dawn befinden sich in E2, während Linda als abgelehnte Kandidatin in der Mission Control ihre Beobachtungen schildert. Eine brisante Verbindung, waren doch Linda und Dawn einst beste Freunde.
Hier liegt also der Schwerpunkt der Terranauten, und auch seine Stärke: In jedem Konflikt, in jeder Emotion. Denn Neid, Lügen, Eifersucht und Bitterkeit, das ist genau das, was die Story so tief macht. Denn jederzeit könnte alles in die Luft gehen. Dazu kommen unzählige Konflikte, die die Story tragen. Dawn gegen Linda, draußen gegen drinnen, Ego vs. Team, das Wohl des Einzelnen über das des Teams? Ein Psycho-Cocktail, bei dem man schließlich alle Seiten irgendwie verstehen kann. Einen Konflikt im Leser gibt´s also gratis dazu. Nur Handlung gibt´s kaum.
Das Hörbuch: Feuerwerk der Sprechkunst
Das Hörbuch hat einen entscheidenden Vorteil: Neben der Story kann man recherchieren. Und so saß ich am PC, lauschte den Sprechern und trieb mich auf der offiziellen Homepage des Projektes herum. Und siehe da: Die Orte innerhalb der Glaskuppel sehen tatsächlich so aus, wie im Buch beschrieben. Dennoch: Ich brauchte diese Bilder, um mich wirklich ins Buch zu finden. Auch, weil ich den Roman anfangs nicht richtig einordnen konnte. Nicht in ein Genre, ich sah keinen Schwerpunkt und auch das Experiment schien mir sehr schwammig ohne Details und Wissenschaft beschrieben zu sein.
Die Sprecher des Hörbuchs sind August Diehl als Ramsey Roothoorp, Ulrike C. Tscharre als Linda Ryu und Eli Wasserscheid als Dawn Chapman. Ramsey empfand ich leider als etwas flach, in Charakter und Emotion, und dementsprechend unscheinbar. Linda und Dawn dagegen – die ewig besten Freundinnen, die ewig besten Feindinnen – glänzten für mich vor allem durch die Emotionen in den Stimmen. So mitfühlend Dawn schien, so verbittert Linda wurde, ich hätte ihnen ewig zuhören können.
Fazit: Wie zwei Stimmen eine Story trugen, in der recht wenig passiert.
Die Terranauten von T.C. Boyle hat mich gleich mehrmals überrascht. Es war völlig anders als erwartet. Nein, es ist kein SciFi, aber das Grundskelett der Story beruht auf einer tatsächlichen Begebenheit: Einem wissenschaftlichen Experiment. Der Schwerpunkt der Story liegt auf der Psychologie der Probanden, eine Bandbreite voller Emotionen, die vor allem durch die Stimmen von Eli Wasserscheid und Ulrike C. Tscharre unglaublich gut transportiert wurden. Eigentlich dachte ich bereits zu Anfang die Charaktere sehr gut einschätzen zu können; auch da lag ich falsch. Was ich in Bücher liebe, sind Stellen, in denen ein kluger Konflikt entsteht, bei dem man viele konkurrierende Seiten verstehen kann. Die Terranauten tut dies. Ein wenig Big Brother, ein bisschen „Wer mit wem?“, viele Emotionen, viel Sex, wenig Science, eine bestimmende Mission Control gegen Versuchspersonen mit Gottkomplex.
Die Terranauten ist ein wirklich tolles „Wie hätte es verlaufen können?“-Buch, was für mich nur in Kombination mit der Hintergrundstory geklappt hat. Ein toller Gedankenausflug, der mit überraschend wenig Handlung auskommt. Darum keine herausragende, sondern eine eher schleppende Story – an der leider auch ein hervorragend gesprochenes Hörbuch nichts ändern kann.
Vielen Dank an der Hörverlag für dieses Rezi-Exemplar!
Weiterführende Links zum Projekt Biosphere 2:
Die offizielle Homepage inkl. einer virtuellen Tour durch alle Bereiche.
Videos: 1. New York Times Retro Report über die Biosphere;
2. Die BiosphereFoundation über ihr Projekt (mit vielen Original-Aufnahmen)
Viel Spaß beim Hören, Schauen und Lesen!
Roman mit Schwerpunkt Gruppenpsychologie im Experiment
der Hörverlag
09.01.2017
Hörbuch als MP3-CDs
16 Stunden 46 Minuten
Die Hölle, das sind immer die anderen …
Was passiert, wenn man vier Männer und vier Frauen in ein riesiges Terrarium einsperrt? T. C. Boyles fabelhafter Roman, basierend auf einer wahren Geschichte, erzählt vom halsbrecherischen Versuch, eine neue Welt zu erschaffen, um sich vor dem Untergang unserer eigenen zu retten. Zwar bleibt die schöne neue Welt im Glas von Kriegen, Epidemien und Umweltkatastrophen verschont. Doch es kommt darauf an, wer mit im Glashaus sitzt. Und die Hölle, das sind immer die anderen …
(2 MP3-CDs, Laufzeit: 16h 46)
2 Gedanken zu „Die Terranauten von T.C. Boyle“
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