[Rezension] Aus der Dunkelkammer des Bösen von Mark und Lydia Benecke – True Crime – Sachbuch
Das Böse im Menschen ist unergründlich, heißt es. Aber stimmt das?
Mark Benecke ist Kriminalbiologe und Autor, seine (mittlerweile Ex-)Frau Lydia Kriminalpsychologin. Aus der Dunkelkammer des Bösen ist ein Gemeinschaftsprojekt zweier Autoren, die sich auf ihrem jeweiligen Fachgebiet der Erforschung besonders schwerer Straftaten verschrieben haben. Sie kombinieren ihr Wissen, um prägnante Kriminalfälle von möglichst vielen Seiten zu beleuchten. Dabei machen sie auf Muster und Zusammenhänge zwischen ähnlichen Fällen aufmerksam und hinterfragen: Wäre es möglich gewesen, das Verbrechen zu verhindern?
Fall für Fall aufschlüsselnd, beginnend mit dem Serienmörder Luis Alfredo Garavito, der über 300 Jungen grausam zu Tode folterte, ergötzt es sich dabei aber keineswegs an Gewaltdarstellung. Es versucht anhand der Erstellung psychologischer Täterprofile auf Missstände hinzuweisen: Die Notwendigkeit der genauen Erforschung der Muster „Welche Einflüsse machen einen Menschen zum Täter?“ in Kombination mit dem Nicht-Wegschauen des Umfeldes auffälliger Kinder, sowie den Ausbau der Präventionsmaßnahmen und Hilfestellen für noch-nicht-Täter. Dazu bedient sich das Autorenteam einiger der brutalsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte, schildert sachlich die Begegnung mit Tätern oder emotional bewegend, wie ungeklärte Mordfälle Familien belasten und schließlich zerstören können.
Dabei scheuen sie keine Tabus: Pädophilie, Nekrophilie und Sadismus sind ebenso Themen des Buches wie die übersinnliche Ermittlung. Vor Absätzen mit besonders abstoßenden Schilderungen wir rechtzeitig verwarnt: Man kann sie einfach überspringen. Dennoch ist Aus der Dunkelkammer des Bösen nichts für zarte Pflänzchen – und dazu zähle ich selbst.
Lydia Benecke: Kriminalpsychologin
Schuster, bleib bei deinen Leisten! Im Laufe des Buches lernte ich, den Autor des jeweiligen Abschnitts auch ohne Kennzeichnung herauszulesen. Während Mark Beneckes Schilderungen größtenteils Erfahrungs- und Reiseberichte enthielten, zudem Rückblenden auf alte Fälle, liefert seine Co-Autorin Lydia, selbst anerkannte Kriminalpsychologin und Bestseller-Autorin, das fundierte Hintergrundwissen und psychologische Tiefe. Auch wenn ich glaube, dass Mark Beneckes „Berichte aus der Praxis“ die meist theoretischen Parts seiner Partnerin auflockern sollten; ich fing schnell an, Lydia Beneckes Parts entgegenzufiebern. Denn während er (gefühlt) mehr Fragen aufwarf als beantwortete, und gelegentlich emotionale Momente ins Buch fließen ließ, faszinierte mich doch vor allem, was hinter allem steckt. Mich interessieren Muster, Profile; Perspektivwechsel.
Nun habe ich von Lydia Benecke ehrlich gesagt noch nie zuvor gehört. Denn hätte ich´s: Wahrscheinlich hätte ich zu einem der Bücher gegriffen, auf denen sich ihr Name nicht klein an zweiter Stelle überm Titel versteckt, wie bspw. das Buch rechts.
Weiterführend: Interview zum neuen Buch: Sadisten
Ich habe hier noch ein super Interview mit gamona.de (Klick!) gefunden, in dem Lydia Benecke sich zu Themen wie Killerspiele, The Last of Us oder Christian Gray äußert.
Im echten Leben wäre das jemand, den ich wahrscheinlich früher oder später als Klienten hätte.
Ein Appell an Politik und soziales Umfeld
Natürlich soll dieses Buch das Verhalten von Tätern keineswegs entschuldigen, doch ihre Neigung zur Brutalität beleuchten. Denn in den allermeisten Fällen waren auch sie in der Kindheit Opfer von Misshandlung. Und: Viele von ihnen wandten sich an Psychologen oder Seelsorger, als sie ihre Neigung erkannten. Vielen wurde nicht geholfen, sei es aus mangelnder Qualifikation der Therapeuten, weil es Tabuthemen sind, an die sich selbst Psychater nicht rantrauen, weil viele Verhaltensmuster wie bspw. die Nekrophilie bis heute weitgehend unerforscht sind. So stehen viele Täter einsam am Abgrund ihrer Psyche und gehen den nächsten Schritt aus Frust und -natürlich meist- freiem Willen.
In vielen Fällen hätte man ihn jedoch verhindern können. Präventionsnetzwerke wie „Kein Täter werden“, das Pädophilen an allen Standorten in Deutschland kostenlose und durch Schweigepflicht geschützte therapeutische Hilfe anbietet, können helfen. Finanzielle Unterstützung „von oben“ gibt es für solche Projekte aber kaum. Denn welcher Politiker möchte schon damit in die Presse, dass er Pädophilen hilft? Und sei es auch noch so sinnvoll.
„Folge ist aber natürlich auch, dass Menschen, die darunter leiden, solche Fantasien zu haben, kaum Hilfe finden. Unsere Einstellung dazu kennen Sie ja schon: Es wäre besser, früh mit seltsamen Menschen zu sprechen, denn das würde manche Tat verhindern. Woher wir das wissen? Von den Tätern. Sie erzählen uns genau das.“ – S.676/819
Viele spätere Täter wurden bereits in ihrer Kindheit auffällig, und das nicht unbemerkt. Oft von den Eltern als „Jugendsünde“ abgetan, suchen sich viele sich keine Hilfe von außen. Die andere Seite: Häufig wurden und werden auch heut viel zu oft Misshandlungen an Kindern vom sozialen Umfeld als „Erziehungsmethoden“ abgestempelt, so wird auch heute noch ungestraft geprügelt. Überforderte Jugendämter tun ihr übriges: Ja, viele Verbrechen könnte man verhindern! Dieses Buch macht darauf aufmerksam – und allein deswegen ist es für jedermann lesenswert.
Filmtipps und Buchvorlagen
Zum Aufbau noch wenige Worte: Aus der Dunkelkammer des Bösen ist ein „Rundflug“ über extrem abnormale Gewaltverbrechen der letzten Jahre. Dennoch findet man dort auch historische Beispiele wie den Fall des Herman Webster Mudgett, der in seinem Hotel in Chicago in den 1890ern an die 200 Menschen ermordete. Wolfgang Hohlbeins Roman „Das Mörderhotel“ erzählt von den Ereignissen dieses grauenhaften Falles. (Ich habe den Thriller angehört, kam aber nicht einmal bis Ende des ersten Kapitels.)
Hauptsächlich jedoch befinden sich aktuelle Fälle im Buch: Die Fälle Frizl und Kampusch beispielsweise, die aber in den Medien (und mit Hilfe von Kriminalpsychologen in div. Sendungen) bereits so totgequatscht wurden, dass man dort nicht viel Neues erfährt. Auch empfand ich die Schilderungen der bekannten Fälle zu lang: Sollte Interesse bestehen, würde ich auch hier zu weiterführender Literatur greifen; Natascha Kampuschs erstes Buch „3096 Tage“ erschien nur wenige Wochen nach Beneckes Buch.
Im Buch befinden sich auch Referenzen zu Filmen, in denen Persönlichkeitsstörungen (Haupt-)Teil der Handlung sind. Fight Club ist hier nur ein Beispiel, das es dem Leser erleichtern soll, Schizophrenie von einer multiplen Persönlichkeitsstörung zu unterscheiden. Natürlich ist das nicht sehr wissenschaftlich, dennoch eine gute Möglichkeit, eine neue Zielgruppe für das Thema zu sensibilisieren. Zur Aufklärung sind viele Mittel recht.
Aus der Dunkelkammer des Bösen ist nachhaltiger True Crime Horror
Aus der Dunkelkammer des Bösen ist ein schreckliches Buch, aber das ist definitiv dem Thema geschuldet. Es umfasst eine Menge Facetten der kriminologischen Aufarbeitung von Straftaten: Von der Analyse des Tatorts (Ekel), der Rekonstruktion von Straftaten (grauam), zum Dialog mit den Hinterbliebenen (emotional) und den Tätern (erschreckend). Später folgt die Erstellung eines Täterprofils (spannend), sowie die Erklärung von Mustern, die Fälle miteinander verbinden (interessant) und die Erläuterung von Fachbegriffen in Theorie (sehr wissenswert). Leider beinhaltet das Buch auch einige Parts, die mich nicht interessierten (bspw. Hitlers Schädel) und die für mich auch nicht so recht in den Gesamtkontext zu passen schienen. Dazu kamen viele Hinweise auf die vorherigen Bücher Mark Beneckes, was ich nervig fand. Dennoch umfasst das Sachbuch eine weite Spanne an Emotionen, was zeitgleich befremdlich und spannend durch die Seiten zieht.
„Deshalb ist es wichtig, sich jeden Tag neu und bewusst für oder gegen das zu entscheiden, was man tut. Es ist sehr schwer, sich dabei von der Meinung anderer und den Vorgaben seitens Vorgesetzter zu lösen. Dennoch haben die meisten Menschen in der Tat die Wahl. Jeder muss sich dazu aber täglich neu bewusst machen, dass er allein diese Entscheidung trifft – nicht die Gesetze, nicht der Chef, nicht die Kollegen und auch nicht die Freunde.“- S. 119/817
Am Ende möchte ich noch darauf hinweisen, dass ich dieses Buch zu Anfang meines Schocktober-Events gelesen habe. Den „Genuss“ von Horrorliteratur und -spielen hat es mir deutlich erschwert, sehe ich jetzt doch überall die von Beneckes erläuterten Muster hervorspringen. Und weiß, dass es all das wirklich gibt…
Weitere Infos:
„Viele Menschen haben Angst vor dem »schwarzen Mann«, der aus einer dunklen Ecke plötzlich auftaucht und ihnen oder ihren Angehörigen etwas antut. In Wirklichkeit ist es aber unwahrscheinlich, von einem völlig Fremden getötet zu werden. Neunzig Prozent aller Morde werden von Menschen begangen, die ihre Opfer kennen.“ – S.540/817
Einen „Vorgeschmack“ auf das Buch bietet ein im Jahre 2011 geführtes Interview mit dem Autorenpaar, das auf Welt.de veröffentlicht wurde. Wen das nicht abschreckt, der hat sicherlich eine spannende Zeit mit „Aus der Dunkelkammer des Bösen“.
Irgendwann kommt der Ekel vor Wurst und Metzger.
[Übersicht] Mark Benecke – True Crime
1. Mordmethoden
2. Mordspuren
3. Aus der Dunkelkammer des Bösen
(Reflinks Amazon)
Mark Benecke True Crime
True Crime Sachbuch
Bastei Lübbe
11.11.11
eBook
432
In der Dunkelkammer des Bösen rücken wir ganz nah heran an erstaunliche Verbrechen. Wir treffen auf Killer wie Dr. Holmes, den ersten bekannten Serienmörder der USA. 1893 baute dieser Gaskammer, Krematorium und Präparationstische, um Hunderte von Menschen zu foltern und zu töten. Wir widmen uns Vergewaltigern, Nekrophilen, Sadisten, Sexualmördern und anderen Tätern. Wir schauen in ihr Innerstes und wir besuchen sie im Knast. Wir fragen uns: Wie entstehen "Monster"? Gibt es kaltblütige Killer wirklich, oder sind sie Opfer der Umstände? Müssen Täter pädophil sein, um sich an Kindern zu vergehen? Was steckt hinter den Fällen Fritzl und Kampusch, und waren das grausige Ausnahmen?
Ein Gedanke zu „Aus der Dunkelkammer des Boesen von Mark und Lydia Benecke“
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