Sumerland – Prinzessin Serisada von Johannes Ulbricht

[Rezension] Johannes Ulbricht – Sumerland 1: Prinzessin Serisada

Die zweiteilige Sumerland-Reihe von Johannes Ulbricht ist in vielerlei Hinsicht ein verwunderliches Literaturerlebnis. Einige Vorbemerkungen: Für Rezensionen bekam ich beide Sumerland-Roman zugeschickt. Das ist nicht üblich, macht hier aber absolut Sinn, da beide Romane nahtlos ineinander übergehen und die alleinige Lektüre des ersten Bandes nicht glücklich macht. Optisch machen die Romane ordentlich was her: Feine und detaillierte Zeichnungen der Kegelstadt Waylhaghiri zieren die Cover, die Buchrücken ergänzen sich zu einem Bild. Neben den zwei Romanen gehört auch eine Augmented Reality-App zum neuen Leseerlebnis. Diese ist kostenlos über den Google Play- bzw. Appstore erhältlich.

Aber erst zum Roman:

Welt 1: Die Eingeweihte

Unsere Ich-Erzählerin arbeitet in der Marketing-Abteilung eines Unternehmens und fühlt sich verfolgt. Ihren Verfolger kennt sie gut und spricht ihn persönlich an: Andi ist keine Gestalt, sondern vielmehr ein Schatten ihrer Vergangenheit, der ihr Handeln verfolgt, überwacht und kontrolliert. In jeder freien Sekunde blickt sie ins Sumerland, die geheime Realität, die ihr als Eingeweihte der Geheimgesellschaft (wenn auch nicht vollständig) Einblick gewährt. Dort sammelt sie wertvolle Tipps für die Businesswelt, die ihrer Karriere einen Aufschwung bringen: Sie perfektioniert die Technik des Zwecklügnertums. Bald trifft sie auf ein seltsames Mädchen namens Susanne, das sich davon nicht beeindrucken lässt. Denn es behauptet, das Sumerland erfunden zu haben.

Welt 2: Waylhaghiri & das Sumerland

Seit vielen Jahren herrscht ein unerbittlicher Krieg zwischen der kegelförmigen Großstadt Waylhaghiri und seinem wilden Umland, dem naturverbundenen Sumerland. Die Soldaten des Prinzen Zazamael fällen Bäume und schaden der Natur, um die gegnerischen Krieger des Sumerlands in eine Falle zu locken. Dies ist ihre letzte Hoffnung, denn ihre eigenen Truppen erlitten durch die nächtlichen Angriffe aus dem Sumerland wiederholt erheblichen Schaden.

Abseits der Kämpfe versucht Prinz Zazamael die „Große Fusion“ in der Stadt Waylhaghiri herbeizuführen, die mehrmals katastrophal scheitert. Seine kegelförmige Stadt, die einzige der Welt, beherbergt unzählige Bewohner auf etlichen Zivilisationsschichten, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Von den Slums im unteren Bereich der Stadt, nahe des innenliegenden Silbersees, bis zum Palast des Prinzen, wo wilde Parties stattfinden, scheint jeder in dieser Stadt zeitweise Platz zu finden. Doch dies verursacht auch Konflikte. Gesteuert werden die Menschen theoretisch durch Trends, Marktentwicklung und Zwecklügnertum, doch in der Praxis mag niemandem die Kontrolle der Stadt gelingen. Der Prinz beschließt darum, ein altes Artefakt zu nutzen: Im Herzen des Sumerlands muss er den wilden Wein finden, um die Große Fusion endlich erfolgreich durchzuführen. An seiner Seite für diese Mission: Die treusten Ritter der Stadt. Doch die Mission verläuft nicht wie geplant…

Auf der anderen Seite der Stadtmauern beschließt Prinzessin Serisada, die kindliche Herrscherin des Sumerlands, aufgrund des nie endenden Krieges, die Sicherheit ihres Palasts aufzugeben und sich in nach Waylhaghiri zu schleichen, um aus dem Herzen der Stadt heraus eine Revolution anzuzetteln, die das gegenseitige Töten ein für alle Male beendet. Doch die Stadt entpuppt sich als Uhrwerk der Geschäftstüchtigkeit, eine Spirale der sie kaum entfliehen kann. Für die Prinzessin der sommerlichen Spielzeugwelt eine unwiderstehliche, doch uneinschätzbare Herausforderung, in der sie ihr Können endlich beweisen kann.

Alles in Balance?

Sumerland 1 Johannes Ulbricht Apparatu App

Sumerland beschreibt ein konfliktreiches Fantasy-Szenario, das unzählige Widersprüche zu vereinen versucht. Die Welten, Zeiten und Charaktere die im Laufe der Story aufeinander treffen, könnten unterschiedlicher kaum sein. Maximierte Vernunft, der ultimative Geschäftssinn ohne jederlei Empathie trifft auf das fantasievolle Sumerland mit seiner Natur und den trickreichen Tierwesen. Überall finden sich diese Kontraste: Offensive Ritter treffen auf heimtückische Assassinen, moderne auf klassische Fantasy, arm auf reich, Vision auf Wirklichkeit; einfach alles – sogar der ständige Wechsel der Erzählperspektiven – bildet Kontraste über Kontraste. Auf diesen Umstand wird mit den Yin & Yang-ähnlichen Symbolen im Text noch zusätzlich hingewiesen.

In Waylhaghiri herrscht der maximierte Geschäftssinn, der die Bewohner schnell aufsteigen, aber ebenso schnell abstürzen lässt – im wahrsten Sinne des Wortes – bei jedem falschen Schritt. Prinz Zazamaels Vision ist die Schließung der Diskrepanz zwischen den – ebenso wortwörtlichen – Bevölkerungsschichten hin zu einer utilitaristischen Struktur. Ihr merkt, einfach ist der Stoff dieses in feinstes Fantasy-Gewand gehüllten Überraschungspakets wahrlich nicht.

Leider ist der Roman unter dem Strich etwas zu stimmig in Plot & Schreibstil: Auch dort harte Kontraste, zwei Schauplätze, die nicht so recht in eine Geschichte zu passen scheinen. Mir fehlte hier die Balance: Während ich die Abenteuer im Sumerland sehr mochte, die knackig und spannend auf den Punkt geschrieben sind, bremsten die Wechsel zur namenlosen Ich-Erzählerin, ihrem imaginären Freund, ihren chaotischen Erinnerungen und ihrem ermüdenden Büroalltag mehr und mehr die Story aus. Zu wenig scheint dieser Strang von der Beobachtung des Sumerlands zu profitieren, zu wenig scheinen sich die Handlungsstränge zu beeinflussen; Zwecklügnertum hin oder her.

Dazu kommt, dass die den Plot tragenden Fragen der Geschichte: „Wer ist Andi?“, „Was genau soll fusionieren?“ und „Was ist der wilde Wein?“ – erst viel zu spät oder unpräzise beantwortet werden, was den Roman über weite Teile kaum greifbar und jede Andeutung recht schwammig wirken lässt. Und so wurde die Lektüre zur Achterbahnfahrt.


„Der wilde Wein hatte die Kraft eines Perpetuum mobile, er ermöglichte es, trunken vom eigenen Blut zu werden und niemals verkatert aus dem Rausch zu erwachen.“ (S. 93)


Apparatu Memoria Sumerland – App zum Roman

Apparatu Memoria Sumerland App Android iOS
Die Sumerland-App gibt es für Android & iOS.

Augmented Reality steht für „erweiterte Realität“ und genau das ist, was der Autor in seinem Buch getan hat. Der Alltag seiner Ich-Erzählerin scheint um eine geheime, nur für Eingeweihte sichtbare, Realität erweitert, in die nur sie einen Blick werfen kann. Die Ich-Erzählerin versucht, durch das aus dem Sumerland gewonnene Wissen in ihren Arbeitsalltag zu übertragen, was häufig funktioniert. – Ihr könnt es nun ähnlich machen: Euch das Handy schnappen und euer Sumerland-Wissen in die Apparatu Memoria-App übertragen, um eine Belohnung freizuschalten. Soviel zur Theorie.

In der Praxis gibt es keinerlei Hinweis, wie man die App in Kombination mit den Romanen einsetzt. Das Tutorial-Video beschreibt die Sumerland-App als Freiluftabenteuer, in dem Symbole an verschiedenen Locations vor Ort mit der Handykamera eingescannt und die dadurch freigeschalteten Rätsel sofort gelöst werden. Die App bietet Zugriff auf eine Karte, in der diese Locations verzeichnet sind; in meiner Stadt war leider nichts dabei.

„Dann per Buch“, dachte ich und las bis zum ersten Zeichen. Doch die App erkennt die Symbole im Roman nicht. Also druckte ich sie von der Website aus und scannte sie ein, wenn ich am jeweiligen Symbol angekommen war. Doch die Zeichen wiederholen sich und die Rätsel stehen in keinem direkten Zusammenhang zum gelesenen Text, im Gegenteil: Sie greifen sogar im Text voraus und nahmen wichtige Handlung vorweg! Ich verschob die Lösung auf später. Nach der Lektüre hänge ich nun noch immer an den teils (verdammt) schwierigen Rätseln. Manche Antworten finden sich in den Bildern, manche riet ich und manche blieben ungelöst.

Aber: Die App umfasst viele wunderschöne Illustrationen zu den beiden Romanen, mit denen man sich intensiv beschäftigen muss, um die Lösungen der Rätsel zu finden. Das Cover beispielsweise kann man auf dem Display so groß zoomen, dass man wirklich jedes Detail der Kegelstadt erkennen kann. Trotz (fast) unlösbarer Rätsel macht die App für mich Sinn, wenn auch nicht in der Art, in der es gedacht zu sein scheint.

Fazit: Tiefe Fantasy mit Langzeitwirkung

Sumerland ist ein anspruchsvolles Fantasy-Paket, das während des Lesens mehr anstrengt als unterhält. Viele Dinge gefielen mir in der Story nicht: Die unglückliche Rolle der Ich-Erzählerin, die oft in Moderation verfällt; die unzähligen Rätsel um die Hauptstory, die viel zu spät beantwortet werden; nicht zuletzt die App, die ihr nur unabhängig oder nach der Lektüre der Romane anfassen solltet.

Nach der Lektüre aber entwickelte Sumerland eine unerwartete Langzeitwirkung, von der ich mich nicht frei machen konnte. Ja, der Roman wird tatsächlich – rückwirkend – besser, je länger man darüber nachdenkt. Und so erwischte ich mich oft dabei, zu Grübeln über unsere Gesellschaft, wann immer ich an großen Werbeplakaten vorbei kam oder/und ich im Alltag auf gesellschaftliche Kontraste traf. Insofern ist Sumerland tatsächlich ein einzigartiges und unvergessliches Leseerlebnis, für das der Leser aber ziemlich ackern muss.

Vielen Dank an Autor Johannes Ulbricht für die Rezi-Exemplare.


[Übersicht] Johannes Ulbricht: Sumerland

1. Prinzessin Serisada
2. Prinz Zazamael #amreading
Dazu: Apparatu Memoria Sumerland-App (im Play-/Appstore)

Weitere Informationen zur App findet Ihr auf der Website: endederwelt.de.

Prinzessin Serisada Book Cover Prinzessin Serisada
Sumerland
Johannes Ulbricht
anspruchsvolle Fantasy
Panini
22.08.2016
Taschenbuch
352

Vorsicht, der Klappentext enthält Spoiler: 

Nur wenige Eingeweihte wissen, dass unsere Zivilisation nichts als eine kollektive Illusion ist, in der die Menschen gefangen gehalten werden. In Wahrheit tobt ein geheimer Krieg in der phantastischen Realität hinter der Scheinwelt unseres Alltags. Auf der einen Seite steht der babylonische Stadtkegel von Waylhaghiri, in dem alle Zivilisationsepochen der Menschheit übereinander geschichtet sind. Diese einzige Stadt auf der Welt lebt von der Perfektionierung der zivilisatorischen Ästhetik. Glamour, Moden und kalkulierte Manipulation sind bis in die Intimsphäre allgegenwärtig. In diesem System müssen die Bewohner ihren sozialen Status jeden Tag aufs Neue verteidigen. Auf der anderen Seite steht die umgebende Wildnis des Sumerlandes, in der Tiermenschen leben, die verspielt und kindlich, aber auch unberechenbar und grausam sind. Die jahrhundertealten, doch ewig kindlichen Herrscher beider Reiche, Prinz Zazamael und Prinzessin Serisada, kämpfen erbittert um die Vorherrschaft. Zazamael benötigt für die endgültige Dominanz seines Reiches – die in Form einer Emulsion von Traum und Wirklichkeit namens „große Fusion“ erfolgen soll – den „wilden Wein“ als rettendes Elixier. Auf der Suche nach dem „wilden Wein“ dringt er unter ständiger Bedrohung durch die sumerländischen Tiermenschen ins Herz von Serisadas Reich vor. Auf dieser Reise werden alle seine Gefährten einer nach dem anderen hingemeuchelt, wobei der Prinz das eigentliche Ziel des Attentäters zu sein scheint. Erst einen Schritt vor dem Ziel angekommen erkennt Zazamael, wer der Mörder ist. Währenddessen gelingt es Serisada, als Spionin in Waylhaghiri einzudringen. Dort hat sie die schwierige Aufgabe, sich in der Zivilisation zu behaupten, ohne enttarnt zu werden. Zunächst gelingt ihr eine beachtliche Karriere als Designerin, bis es zu einem der regelmäßigen Zusammenbrüche der ästhetischen Muster in Waylhaghiri kommt, wodurch – wie jedes Mal – ein Teil der Stadt untergeht, indem er von dem tödlichen Silber bedeckt wird. Leider ist es der Teil der Stadt, den Serisada designt hat und in dem sie lebt.