[Gedankengut/Rezension] Karl Olsberg: Mirror – Über kleine und große technische Revolutionen
Mirror ist ein dystopischer SF-Thriller von Karl Olsberg, der Ende letzten Jahres im Aufbau-Verlag erschien. Schwerpunkt des Romans ist das Thema Künstliche Intelligenz, was eins meiner liebsten Themen ist. Darum verfolgte ich seine Schreibarbeit zu dem Roman begeistert per Twitter. Da Karl Olsberg über Anwendungen Künstlicher Intelligenz promovierte (laut Amazon), ich ihn bisher aber nur als Autor diverser Kinder-Minecraft-Abenteuer erlebt habe, bin ich sehr gespannt auf seinen neuen Roman. Denn im Grunde ist das, als würde man beim Stammfriseur plötzlich Quantenphysik studieren.
„Dein Mirror kennt dich besser als du selbst.
Er tut alles, um sich glücklich zu machen.
Ob du willst oder nicht.“
Mirror
Mirrors sind künstlich erschaffene Ebenbilder, die als Alltagshelfer fungieren. Die Hardware besteht aus einem kleinen Kasten mit der KI mit möglichen Ergänzungen: Das Startpaket umfasst das MirrorSense-Armband sowie den MirrorClip-Ohrstecker. So ist es der KI möglich, viele Daten über seinen Besitzer zu sammeln und direkt zu ihm zu sprechen, ihm Ratschläge zu erteilen oder für ihn zu recherchieren.
Der Roman Mirror erzählt die Geschichte verschiedener Charaktere, die allesamt aus völlig unterschiedlichen Gründen die ersten Tester des überteuerten Mirror-Systems in einem futuristischen Szenario sind. Alle Geräte sind über das MirrorNet vernetzt, so tragen sie alle zu dem Ausbau dieser Technologie bei. Dass diese diverse Gefahren birgt, zeigt der Roman. Doch zur Story:
Carl
Futuristisch ist die Welt, in der Carl Poulson lebt. Gerade noch fährt er in seinem selbstfahrenden Tesla über die Golden Gate Bridge, da erreicht ihn eine Nachricht seines Vaters. Sein hilfsbereiter Mirror liest sie ihm gern vor. „Hilfe“, lautet sie.
Die Mirrors sind Carls Erfindung, sein Lebenswerk, seine Babies. Auch wenn die Mehrheit seiner Firma „Walnut Systems“ vor einem halben Jahr von Global Information Systems für 100 Mio. Dollar übernommen wurde. Carl ist noch immer Vorstandschef – und sein Traum, die Welt zum Positiven zu Verändern, hat noch Bestand: Dieses System kann leben retten.
„Brustkrebs. An sowas starb man heute nicht mehr! Hätte sie sich nicht immer geweigert, zu den Vorsorgeuntersuchungen zu gehen, wäre sie jetzt noch am leben. Dass ein Mensch so sorglos und unaufmerksam mit seinem Körper umging, war eines der vielen Dinge, die Carl ändern wollte.“ – Prolog
Andy
Zu seinem 21. Geburtstag bekommt Andy einen Mirror geschenkt. Da Andy unter dem Asperger-Syndrom leidet, kann er keine Emotionen einschätzen. Für Leute wie ihn gibt es MirrorExpressions: Der Mirror deutet für Andy die Gesichtsausdrücke seines Gegenübers. Für ihn ist das ein neues Lebensgefühl. Denn bisher lebte Andy in seiner eigenen Welt, meist in der des Onlinespiels World of Wizardry. Nun aber traut er sich raus, in die echte Welt, und findet bald neue Freunde.
Lukas
Lukas ist ein Idiot. Gerade erst hat er sich ein Herz mit dem Namen seiner Freundin Ellen tätowieren lassen, da schläft sie schon mit einem Typen mit Hörgerät. Als er herausfindet, dass das Hörgerät eigentlich ein Mirror ist, will er auch eins. Statt Lukas zu helfen, Ellen zurückzugewinnen, sucht der Mirror ihm eine Freundin, die besser zu ihm passt. Ehrlich, Lukas ist ein Idiot.
„(…) Lukas wurde das Gefühl nicht los, dass ein Mirror nur was für echte Spackos war, so eine Art geistiger Rollator. Dabei hatte es in dem YouTube-Video so ausgesehen, als hätten nur coole Typen einen Mirror.“ – S.70
Jack
Jack Skinner ist Drogendealer im abgefucktesten Bezirk San Franciscos, doch er ist zu weich für diesen Job (und benutzt Worte wie „disziplinieren“). Ständig hat er Schulden, weil andere bei ihm in der Kreide stehen. Durch Zufall gelangt er in Besitz eines Mirrors, der ihm ab nun ein wichtiger Vorteil im Straßenkampf ist. Doch wer cheatet, macht sich Feinde.
Freya
Freya Harmsen ist Journalistin & Fotografin, und nutzt als solche die neuste Technik für ihre Reportagen. Gerade arbeitet Freya an einer Reportage für eine Londoner Zeitung: 30 Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl besucht sie die Geisterstadt Pripjat. Während ihre MirrorGlass-Brille hochauflösende Fotos schießt, dreht die MirrorBird-Drohne Runden über die Location. Doch es kommt zu einer Fehlfunktion…
Kurzrezi – Ein paar Sätze zur Story:
Ihr merkt, eine normale Rezension wird dieser Beitrag nicht. Das liegt daran, dass ich die Story des Romans allerhöchstens als „nicht schlecht“ bezeichnen würde, was hauptsächlich an den teils wirklich dummen Figuren liegt. Lukas ist ein Vollhorst, wie er im Buche steht (tatsächlich!) und er schart allerhand nicht viel hellere Birnen um sich. Andys Story ist ganz süß, Freyas Story ist die einzige mit etwas Spannung. Der dauerhaft zwischen den Zeilen hervorspringende erhobene Zeigefinger störte mich. Unterm Strich hinterfragen die Figuren zu wenig die Anweisungen der KI; oder kurz: Alle diese Figuren würden bei fehlerhaftem Navi als Geisterfahrer auf der Autobahn enden, mit dem alles entkräftenden „Das Navi hat gesagt, ich darf.“-Argument.
Für längst überholt erachte ich die Frage, ob eine per Mirror geschlossene Freundschaft denn auch wahre Freundschaft ist. Diese Frage ist mit Facebook in den letzten Jahren untergegangen; wen es dennoch interessiert, der erbitte sich mal Umzugshilfe per öffentlichem Aufruf bei Facebook.
Erschreckend jedoch fand ich, dass all die fürs Buch erfundenen Technologien selbsterklärend schienen: MirrorGlasses, MirrorWorld und MirrorNet; das alles gibt es bisher noch nicht in dieser beschriebenen Art (ein sehendes Siri mit VR-Funktion u. Datenaustausch?) – dennoch verstand ich sofort, wie das alles „optimal“ (für die Industrie) zusammenspielen könnte. Jede noch so detaillierte Beschreibung war also überflüssig; es scheint, der Technik affine Mensch sieht diese Verknüpfung längst kommen. Und hier wurde der Roman für mich interessant:
Gedankengut: Über die Risiken und Nutzen moderner Gehirnprothesen
Viel wichtiger finde ich das Thema des Romans und die Innovation, die in ihm steckt. Insofern ist Mirror ein futuristischer Weckruf zum Thema Datenschutz – denn die Richtung, in der sich unser Nutzungsverhalten diverser Netzwerke entwickelt, finde auch ich nicht gut.
Der Mirror weiß, was Frauen wollen…
Neue Technologie gehört zu unserem Alltag und ist für uns längst selbstverständlich geworden. Dinge, die für uns selbst vor fünf Jahren noch undenkbar waren, überfluten den Markt. Für uns ist es heutzutage kein Problem mehr, mit Siri zu sprechen: Ein kleiner Knopf im Ohr genügt. Früher wäre man zumindest noch dumm angeschaut worden, würde man Befehle erteilend über die Straßen hetzen. Und heute: Die Wartezeit im Café ohne Handy? Die reinste Qual!
Die Industrie gibt Unsummen dafür aus selbstfahrende Systeme zu entwickeln. Fest entschlossen, weitere Millionen Arbeitsplätze zu vernichten, riskiert man zzt. noch die Sicherheit der Testpiloten, obwohl die Rechtslage international ungeklärt ist: Wer haftet, wenn ein selbstfahrendes Auto einen Unfall baut? Nichtsdestotrotz will die Wirtschaft die Automatisierung unseres Alltags um jeden Preis erzwingen. Zur vollkommenen Abhängigkeit fehlt nur noch die Gewöhnung der Menschen an ihre neuen Assistenten. Doch wie weit wollen wir überhaupt auf unsere Selbständigkeit verzichten? Und welche Wege wird man finden, uns diesen Verlust als Fortschritt zu verkaufen?
Vom Guten Zweck zum Hohen Status
Mit Sicherheit ist es von Vorteil – ja sogar notwendig – unsere heutige Technologie für gute Zwecke einzusetzen. Im Roman Mirror hilft die Künstliche Intelligenz dem mit dem Asperger-Syndrom geborenen Andy, die Emotionen seines Gegenübers zu erkennen. Auch kann das Mirror-System der Blinden Marna im Alltag helfen, sich zurecht zu finden.
Ein wenig erinnert mich dieser Trend dann doch an die seit den 1990ern boomenden Schönheitschirurgie: Ursprünglich für Unfallopfer entwickelt, ist sie für die, die sie brauchen, kaum leistbar, – und wird überwiegend von denen genutzt, die sie nicht brauchen. Ein Trend, der sich durchzusetzen scheint. Eins haben beide Entwicklungen dann noch gemeinsam: Schönheits-OP- und auch HighTech-Junkies sehen auf der Straße reichlich dumm aus.
Auch die Arbeit der Journalistin Freya erleichtert ihr Mirror-System anfangs ungemein: Recherche, Aufnahmen und Bericht erledigt sich quasi von allein. Was aber, wenn der Datenschutz ihr Gedankengut weiterleitet, teilt und auswertet? Wenn intelligente Systeme sehen, was wir sehen; wenn wir unsere Gedanken und Erinnerungen mit ihnen teilen; wenn sie unseren Alltag miterleben und uns überall hin begleiten: Wann wissen sie mehr über uns, als jeder andere? Zudem besteht jederzeit die Gefahr der Zensur, wenn Daten und Meinungen durch fremde Hände laufen. Welch hohes und schützenswertes Gut die Pressefreiheit in unserer heutigen Zeit ist, merkt man am besten beim Blick über die Staatsgrenzen hinaus in Richtung USA und Türkei. Welchen Einfluss die Medien auf die Trends und Politik im Land hat, sieht man bereits in Deutschland.
Papego – Innovation auf dem Buchmarkt
Fortschrittlich ist auch, dass Mirror einer der ersten Romane mit Papego-Unterstützung ist. Die Papego-App habe ich bereits ausführlich getestet. [Zum Papego-Test] Kurz: Wer Mirror als Printversion kauft, kann unterwegs über die Papego-App das eBook weiterlesen. Das alles klappt einwandfrei und ist ein wirklicher Mehrwert. In Zukunft wird auch der Piper-Verlag einige Auflagen seiner Bücher mit Papego-Unterstützung versehen. Eine kleine Revolution auf dem Buchmarkt. Hoffentlich.
Dass ausgerechnet der Roman Mirror ein Vorreiter dieses neuen Konzepts ist, ist kein Zufall. Denn Mirror-Autor Karl Olsberg selbst steckt hinter der App.
Fazit: Nicht meine Story, aber mein Thema
Trotz mieser Story bin ich froh, Mirror gelesen zu haben. Denn das Thema der KI im Alltag bzw. moderner Gehirnprothesen wird von vielen Seiten beleuchtet und manch Fragen aufgeworfen. Natürlich endet die Nutzung der „neuen Technologie“ im Roman in einem Fiasko, während in unserem Alltag Daten eher heimlich abgegriffen werden. Und das fängt schon damit an, dass wir Häkchen in AGBs setzen, ohne sie zu lesen. Und dass die Länge und Komplexität jener AGBs vielleicht nicht (nur) erforderlich, sondern auch gewollt ist.
Mirror ist insofern ein lesenswertes Buch, durch das man sich zeitweise etwas quälen muss, was aber dazu verleitet über den technischen Fortschritt nachzudenken. Ist der goldene Apple-Käfig (den auch ich nutze) wirklich nur vorteilhaft? Wieso habe ich mich überhaupt dafür entschieden? Welche „fairen“ Alternativen gibt es? – Und nach langer Überlegung: Warum gibt es denn keine „fairen“ Alternativen? :) Wenn ihr Zeit habt, lest das Buch. Es erdet. Aber ich hab euch gewarnt: Lukas ist wirklich ein Idiot.
“Der Wahnsinn! (…) Zum ersten Mal in seinem Leben war er nicht bloß der dumme Loser, der Idiot, über den sich alle lustig machten. Er war der Mann mit dem Mirror.” -S. 115
Der Vollständigkeit halber:
Wegen des Themas nicht schlecht, wegen der Story nicht gut.
[Zu Amazon, wo unsere Daten bestimmt sicher sind. ;) ]
Weiterführende Links:
Papego App im Test – Print als ebook weiterlesen
Karl Olsberg – Das Dorf 1 : Der Fremde (Minecraft für Kids)
[weitere Bände in der Rezi-Übersicht]
SciFi Thriller
Aufbau Verlag
15.08.2016
Taschenbuch
400
Dein Mirror kennt dich besser als du selbst.
Er tut alles, um dich glücklich zu machen.
Ob du willst oder nicht.
Wie digitale Spiegelbilder wissen Mirrors stets, was ihre Besitzer wollen, fühlen, brauchen. Sie steuern subtil das Verhalten der Menschen und sorgen dafür, dass jeder sich wohlfühlt. Als die Journalistin Freya bemerkt, dass sich ihr Mirror merkwürdig verhält, beginnt sie sich zu fragen, welche Macht diese Geräte haben. Dann lernt sie den autistischen Andy kennen und entdeckt, dass sich die Mirrors immer mehr in das Leben ihrer Besitzer einmischen – auch gegen deren Willen.
Als sie mit ihrem Wissen an die Öffentlichkeit geht, hat das unabsehbare Folgen …
Ein Gedanke zu „Mirror von Karl Olsberg“
Kommentare sind geschlossen.