[Rezension] Cixin Liu: Spiegel – Novelle
Spiegel ist die erste Novelle von “Die Drei Sonnen”-Autor Cixin Liu. Die Trisolaris-Trilogie des chinesischen Autoren sorgte im letzten Jahr für reichlich Trubel. Kein Wunder also, dass 2018/19 eine Reihe von Romanen und Novellen des Autors auf den Markt strömen. (Eine Übersicht findet ihr unten.) Cixin Liu eröffnet in seinen Romanen eine neue Perspektive auf eine mögliche Zukunft mit Fokus auf die politisch kontrollierte Gesellschaft, die sich im einwohnerstärksten Land der Welt entwickeln könnte. Doch welche Konsequenzen hätte unzensiertes Wissen in den falschen Händen?
Spiegel ist ein eigenständiges Werk, das ohne Vorkenntnisse gelesen werden kann. Wenn euch “Die Drei Sonnen” dennoch interessiert, könnt ihr in das [WDR-Hörspiel kostenlos] in die Reihe starten.
Diese Rezi bezieht sich auf das ungekürzte Hörbuch von Spiegel mit einer Laufzeit von 2:31 Stunden, gelesen von Mark Bremer aus dem Rubikon-Verlag.
Der Mann, der alles weiß
Ein Spitzel hält die Beamten der chinesischen Polizei auf Trab: Er hört alles, er sieht alles. Er scheint in Echtzeit alles zu bemerken, was sich hinter verschlossenen Türen abspielt. Für die Polizisten ist er ein Rätsel. Wie kann jemand alles wissen, was gesagt, gezeigt oder aufgeschrieben wird, in einem Raum, der als absolut sicher vielfach durchsucht wurde. Und welche Konsequenzen hat das? Und: Wie findet man jemanden, der seine Augen überall zu haben scheint?
Der Häftling und die Zielperson
Dem jungen Beamten Song Cheng wurde Ähnliches zum Verhängnis. Während seines Gefängnisaufenthalts bekommt er überraschend Besuch. Ein Mann stellt sich bei ihm vor, der behauptet, alles zu wissen. Mit Hilfe neuster Technologie sei es ihm möglich, das gesamte Universum auf molekularer Ebene zu berechnen. Doch sein Wissen trieb ihn nun auf der Flucht vor der Polizei in dieses Gefängnis, aus dem es für ihn kein Entkommen geben wird: Denn der einzige Grund, weshalb man ihn noch nicht dingfest machte, ist die Neugier auf eben dieses Gespräch unter Whistleblowern.
Der Dialog ist der (lange) Weg und das Ziel
Die ganze Novelle Spiegel handelt im Grunde von diesem Gespräch. Die Ausgangssituation ist klar: Der Gejagte floh freiwillig ins Gefängnis, um Song Cheng aufzusuchen. Die höchsten Tiere der chinesischen Polizei überwachen nun das Gespräch der beiden Männer. Der Ausgang der Novelle hängt von diesem Dialog ab: Wird Bai Bing, der Mann, der alles weiß, es schaffen, sein unausweichliches Schicksal abzuwenden?
Und so wundert es natürlich nicht, dass Spiegel äußerst dialoglastig ist. Insbesondere zu Anfang der Novelle gestaltet sich der Dialog zudem zäh, da Cixin Liu die Fähigkeiten seines einen und die Vergangenheit des anderen Protagonisten bis ins Detail ausführt. Hier hätte man die 192 Seiten tatsächlich noch kürzen können! Doch mit einem zähen Anfang hatte ich nach „Die Drei Sonnen“ bereits gerechnet. Zum Glück gewinnt Spiegel zusehends an Fahrt: Die Ausführungen zur neuen Technologie fand ich spannend und faszinierend. Zeitgleich wirft Cixin Liu allerhand Fragen auf, die auch in unserer Gesellschaft eine große Rolle spielen:
Die Problematik des Allwissens
„Dann wird das große Zeitalter des Spiegels anbrechen. Die gesamte Menschheit wird sich einem Spiegel gegenübersehen, der noch die kleinsten Taten jedes Einzelnen in aller Klarheit offenbart. Nicht das geringste Vergehen wird dann noch verborgen bleiben und niemand, der sich schuldig gemacht hat, wird am Ende seiner gerechten Strafe entgehen.“ (Kap. 12, 5. Min.)
Die perfekte Simulation unseres Universums auf atomarer Ebene; das Universum im Atom. Was könnte man damit anstellen, abseits der Wettervorhersage? Die Geschichte einsehen und den wahren Helden Ruhm zugestehen – statt den von den Siegern benannten. Aber kann man auch in die Zukunft sehen? Und darf man das?!
Läutet eine solch technische Entwicklung ein neues und gefürchtetes „Zeitalter des Spiegel“ ein? Und wie realistisch ist dieses Szenario wirklich? Zu was werden kommende Computer-Generationen fähig sein? In “Spiegel” kreiert Cixin Liu die Theorie eines Superstringcomputers, der dem, der ihn zu programmieren weiß, ein nahezu unendliches Wissen beschert. Was, wenn diese Macht des Allwissens in falsche Hände gelangt? Und was hat das alles mit dem Urknall, der Singularität und einem Spiegel zu tun?!
Cixin Liu verarbeitet eine Vielzahl kluger Ideen und Gedankenspiele, wie man sie häufig in populärwissenschaftlichen Sachbüchern findet, in seiner nachdenklichen Belletristik. Seine „weitergesponnene Realität“ versucht er dabei anschaulich zu beschreiben, allerdings ist sein Gedankenexperiment – wenn man alles verstehen möchte – schon anspruchsvoll.
Fazit: Spannendes Gedankenspiel zum Thema Wahrheit und Allwissen
„Stellen sie sich vor, in der DNA wären niemals Fehler aufgetreten und sie hätte sich auf ewig exakt reproduziert und weitervererbt. Wie sähe das Leben auf der Erde dann heute aus?“ (…)
„Dann gäbe es heute kein Leben, denn die Evolution basiert auf Mutationen, die von fehlerhafter DNA erzeugt werden.“
Der Kommandant nickte Bai zu: „Genauso verhält es sich mit der Gesellschaft. Ihre Fortentwicklung und ihre Vitalität basieren auf dem Impuls von der konventionellen Moral abzuweichen. In allzu klarem Wasser kann kein Fisch mehr leben. Eine Gesellschaft, die keinerlei moralische Fehltritte kennt, ist tot.“ (Kap. 12, 6.Min)
Der Anfang von Spiegel liest sich wie ein Cyber-/SciFi-Krimi. Leider entwickelt sich die Novelle schnell in die von Cixin Liu gewohnte Richtung mit Fokus auf Partei & Politik in China, wo einflussreiche Unbekannte ihre Kandidaten fördern, wo Karrieren gefördert und zerstört werden und niemand auf diesem Pflaster „nur“ mit einer Gefängnisstrafe davonkommt. Diese bedrückende Atmosphäre durch strenge militärische Hierarchie zeichnet Cixin Lius Romane ja auch aus.
Zusätzlich kreiert Liu in Spiegel ein nettes Sci-Fi-Feeling mit physikalischem Denken, ohne technisch zu sehr ins Detail zu gehen. Es geht Cixin Liu eher um gesellschaftliches Denken: Was bewirkt eine solche Macht in China und in der Welt? Dennoch ist Spiegel vom Anspruch her kein Buch „für zwischendurch“.
Aber…
“Spiegel” zeigt ganz wunderbar wie zerbrechlich, wie unwahrscheinlich gar die Entstehung unseres Universums (wie wir es kennen) überhaupt ist. Denn der Urknall hätte auch weit unwirtlichere Gegenden hervorbringen können. Die Detailliertheit seiner Zukunftsvision tröstet fast darüber weg, dass nahezu das ganze Buch aus nur einem Dialog zwischen Gejagtem und (staatlichen) Verfolgern besteht.
Woran ich mich noch immer nicht gewöhnen mag, ist die Sache mit dem poetischen Karma ist bei chinesischer Literatur. Schließlich muss jeder Verrat am Staat geahndet werden, unabhängig davon, ob eine gute Intention dahintersteckt oder Gutes bewirkt wird. So landen auch Helden mit guter Absicht im Knast, was mir generell widerstrebt.
Also…
Mein Fazit ist daher etwas durchwachsen, dennoch habe ich die Lektüre sehr genossen. Angesichts der Kürze der Novelle ist es vielleicht klug, die Romane & Novellen von Cixin Liu zeitnah zueinander zu lesen, da die Eingewöhnung in die von Liu geschilderte Gesellschaft für Leser deutscher und westlicher Sci-Fi doch nicht immer leicht ist und ein paar Seiten (mehr) gut gebrauchen könnte.
[Übersicht 1] Cixin Liu – Novellen & Erzählungen (eigenständig)
1. Spiegel (09.10.17) (s.o.)
2. Weltenzerstörer (13.08.18) [Zur Rezi]
3. Die wandernde Erde: Erzählungen (10.12.18)
[Übersicht 2] Cixin Liu – Trisolaris:
1. Die Drei Sonnen (12.12.16) [Rezi: Hörspiel]
2. Der Dunkle Wald (12.03.18)
3. Jenseits der Zeit (08.04.19)
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Science Fiction aus China
Rubikon Verlag
13.10.2017
Ungekürztes Hörbuch
2:31 Stunden
China in der nahen Zukunft. Der junge, ehrgeizige Beamte Song Cheng stößt auf einen gewaltigen Korruptionsskandal. Doch plötzlich wird er selbst ins Gefängnis geworfen. Dort taucht ein geheimnisvoller Mann mit einem Supercomputer auf, der ebenfalls verfolgt wird - weil er alles weiß. Einfach alles. Wie kann das sein? Und welche Konsequenzen hat das?